Wenn der Europäische Gerichtshof Steuerregeln kritisiert

Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können nationale Gerichte in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der EU-Gültigkeit vorlegen. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

Nun hat der EuGH entschieden, dass die sofortige Einziehung der Steuer zum Zeitpunkt der Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft gegen EU-Recht verstößt, wenn ein Staat der Gesellschaft keine Möglichkeit bietet, die Zahlung des Steuerbetrags aufzuschieben (Az. C–371/10).

In zugrunde liegenden Fall war eine Gesellschaft Inhaberin einer Forderung in Pfund Sterling. Nach einer Steigerung des Kurses gegenüber der Heimatwährung war ein nicht realisierter Kursgewinn bei dieser Forderung entstanden. Später verlegte die Gesellschaft ihren Verwaltungssitz ins Vereinigte Königreich. Folglich hörte sie auf, im Wegzugsland steuerpflichtige Gewinne zu erzielen. Infolgedessen erstellte der Fiskus eine Schlussrechnung über die latenten Wertzuwächse, die zum Zeitpunkt der Verlegung des Sitzes dieses Unternehmens bestanden, und verlangten sofortige Zahlung.

Nach dem EuGH kann sich die Firma auf die Niederlassungsfreiheit berufen, um die Entscheidung der Steuerbehörden anzufechten. Sie muss im Vergleich zu einer ähnlichen Gesellschaft, die ihren Sitz unverändert belässt, einen Liquiditätsnachteil erleiden. Denn nach der nationalen Regelung zieht die Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat die sofortige Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse beim verlegten Vermögen nach sich, während solche Wertzuwächse nicht besteuert werden, wenn eine solche Gesellschaft ihren Sitz nur im Inland verlegt. Diese unterschiedliche Behandlung ist geeignet, eine Gesellschaft davon abzuhalten, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, und stellt eine nach den Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit grundsätzlich verbotene Beschränkung dar.

Die Richter wiesen darauf hin, dass die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten ein legitimes Ziel ist. Sie bleiben befugt, insbesondere zur Beseitigung der Doppelbesteuerung, die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit vertraglich oder einseitig festzulegen. Die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes kann nicht bedeuten, dass der Herkunftsmitgliedstaat auf sein Recht zur Besteuerung eines Wertzuwachses, der unter seiner Steuerhoheit vor dieser Verlegung erzielt wurde, verzichten muss. Zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer solchen Regelung ist jedoch zwischen der Festsetzung des Steuerbetrags und seiner Einziehung zu unterscheiden.

Nach Ansicht des Gerichtshofs beachtet der Herkunftsmitgliedstaat den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn er zur Wahrung seiner Steuerhoheit die Steuer endgültig festsetzt, die für die in seinem Hoheitsgebiet erzielten, aber nicht realisierten Wertzuwächse zu dem Zeitpunkt geschuldet wird, zu dem seine Besteuerungsbefugnis der betreffenden Gesellschaft gegenüber endet. Einer Gesellschaft muss nicht garantiert werden, dass die Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat steuerneutral ist.
Eine Regelung eines Mitgliedstaats, die die sofortige Einziehung der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse bei den Vermögensgegenständen einer Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, zum Zeitpunkt dieser Verlegung vorschreibt, ist jedoch unverhältnismäßig.

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